In Deinem Namen liegt ein ähnlich erhabener Klang wie in den Grundlagen Deines Lebens. Als Erstgeborener hattest Du im Schloss der Familie von Löwenstern weit geöffnete Türen, hunderte Chancen und tausende Möglichkeiten. Es gab immer jemanden um Dich herum, welcher für Deine kindlichen Sorgen und Bedürfnisse Sorge trug. Im Gegenzug zu dieser Fürsorge wurde von Dir strebsames und anständiges Verhalten erwartet und viele, viele Stunden von frühkindlicher Bildung, die nicht immer Deinen Wünschen entsprochen oder Dein Interesse eingefangen haben. Doch Du fügtest Dich diesem sozialen Druck. Mit der Geburt von Ginévra musstest Du Deine gefasste Hoffnung auf ein Teilen jener Verantwortung die Du schultern solltest recht schnell begraben. Erst schrie das kleine Kind die dicken Schlossmauern zusammen und dann war es voller ungezähmter Wildheit in den Adern, welche Deine Eltern zur Weißglut und an ihre Grenzen trieb. Du wurdest zu einem noch größeren Abbild von Perfektion. Von der lebenden Verkörperung an den Begriff Nachkomme. Erbe. Mit dem zweiten Mädchen und jüngsten Kind der Familie jedoch konntet ihr endlich diese Last beginnen zu teilen, die Du bis dato alleine getragen hast. Mittlerweile hast Du die Kinderschuhe weit hinter Dir gelassen und stehst vor dem Absprung in das reale Leben: Deine Eltern erwarten ein sinnbringendes Studium von Dir, ebenso hoffen sie darauf, dass Du bald Deine Freundin während der Ferien einmal nach Kopenhagen einladen möchtest, damit sie diese kennenlernen können. Ob Du eine hast oder nicht. Du hattest ein Bilderbuchleben, doch zwischen den Zeilen stehen Schatten, die auch an Dir nicht spurlos vorbeigezogen sind. Irgendwie immer in der Verantwortung für Deine Schwestern, musstest Du auch für ihre Fehltritte den Kopf mit hinhalten. In dem engen Korsett sozialer Erwartungen an Dich bist Du niemals wirklich frei im Leben angekommen.
Vielleicht haben die drei Jahre an der Elite Academy in London einen feinen Riss in das perfekte Abbild des Vorzeigesohns gehämmert, vielleicht liegen Zweifel an der Haltung und den Methoden Deiner Eltern gegenüber der Kindererziehung vor – wenn, so hast Du sie gegenüber Deinen Schwestern bisher bewusst und gekonnt verschwiegen und verborgen. Wer bist Du an dieser Schule, ohne die Adleraugen Deiner Eltern sondern mit der reinen Möglichkeit zur Selbstentfaltung? Was zeichnet Deine Identität aus? Konntest Du es herausfinden?

Soweit sie zurück denken kann, wurde Alannah schon immer ihrer größere Schwester Ginévra gegenüber gestellt - nämlich als abschreckendes Beispiel, wie sie es auf keinen Fall machen sollte. Und das, obwohl sie doch eigentlich immer nur mit dem kaum älteren Mädchen spielen wollte. Doch Alannah war ein folgsames Kind, fügte sich den Wünschen ihrer Eltern: trug die eleganten Kleider, gab sich Mühe um tadelloses Benehmen, glänzte im Ballett und brillierte auch an den Instrumenten, bei denen es sich schickte, sie zu lernen. Kurz gesagt, sie war der perfekte zweite Versuch, nachdem ihre Mutter beim ersten Mal so kläglich gescheitert war, ungeachtet dessen, was sie damit für einen Keil zwischen die beiden Schwestern trieb. Und so weiß Alannah heute oft nicht, ob sie ihrer Schwester blind vertrauen oder sie wütend auf sie sein sollte, wenn sie wieder etwas ausgefressen hat, wofür ihr das Missfallen ihrer Eltern sicher war. Sie weiß so vieles nicht. An der Sinclair Academy, weit weg von dem direkten strengen Blick ihrer Eltern, hätte sie zum ersten Mal die Gelegenheit, sich selbst nach ihren Wünschen zu entfalten - muss sich aber eingestehen, dass sie gar nicht so recht bewusst ist, wer sie eigentlich sein soll, wenn das Image, das ihre Mutter für sie aufgebaut hat, wegnimmt. Auch ihr großer Bruder Evander, nach außen hin der perfekte Goldjunge ihrer Familie, ist für sie leider oft auch ein großes Mysterium. Für die Öffentlichkeit präsentieren sie die perfekte Geschwisterbande und Alannah liebt ihren Bruder und sieht ganz klar zu ihm auf. Die beiden können sich stundenlang unterhalten, gerne hört sie sich seine Sicht auf die Dinge an und weiß, dass sie sich immer auf ihn verlassen kann. Trotzdem hat sie häufig das Gefühl, ihn nicht richtig zu kennen. Als würde er auch vor ihr seine Rüstung niemals ganz abnehmen (können?), seine Rolle nicht einmal hinter geschlossenen Türen vor seiner kleinen Schwester ablegen können (oder gerade vor ihr nicht, um sie nicht zu desillusionieren?), würde sie sich doch einfach nur wünschen, dass nicht ständig über ihren Kopf hinweg entschieden wird, vor was man sie beschützen muss und vor was nicht.