Vor ihren großen, neugierigen Augen hat Ginévra häufig genug Grimassen gezogen oder Spielchen gespielt, während sie eigentlich das Puzzle legen sollte oder die Bilder im Buch betrachten. In Alannah konnte Ginévra die ersten Jahre im Leben ihrer jüngeren Schwester ein Schutzschild finden, welches ihr hingab: bedingungslose Liebe. Schlichtes Genugsein, wie sie war, weil sie ihre Schwester zum Lachen bringen konnte, ihr Trost war und ihr Nähe spendete. Doch dieses innige Verhältnis wusste das Aufwachsen beider Mädchen nicht zu bestehen: unter dem Druck der erforderten Leistungen, des erforderten Verhaltens, der fehlenden Freiheiten für Kinder, zu sein, wer sie waren oder wollten, verloren Alannah und Ginévra sich beinah vollkommen. Es galt immerzu, dass Ginévra sich mit einem Seitenblick hin zu Alannah verhalten sollte, das Verhalten ihrer jüngeren Schwester so viel mehr den Erwartungen ihrer Eltern zusprach. Sie schien besser auf allen Bereichen: im Ballett, im Musizieren, im Verhalten, in jedweden sozialen Aspekten. Ginévra vermisst die Momente, in denen eine Grimasse ausreichte, um Alannah ein Lachen zu entlocken und dafür keine gerunzelte Stirn zu erhalten und die Frage, was nun wieder in sie gefahren sei. Die Schwestern scheinen sich an unterschiedlichen Fronten auf dem Familienschlachtfeld zu befinden und es ist nicht gewiss, ob sie für oder gegeneinander spielen.

Zwischen Alexander und Ginévra herrscht ein schwieriges Verhältnis, welches sich im Kindesalter der ersten Tochter des von Löwenstern langsam aufzubauen begann. Während er das Baby und Kleinkind immer noch entzücken konnte, es zum Lachen brachte und die knapp bemessene Zeit im Garten des Familienanwesen mit ihr liebte, verlor es sich auf dem Wege, als Ginny älter wurde und eine jüngere Schwester bekam. Tatsächlich war Alexander der festen Überzeugung, dass dies genug sei, um Kindern gerecht zu werden: sie waren zu dritt, hatten einander und gleichsam neben der Mutter ausgesuchtes Personal zur Erziehung und Beschäftigung der Kinder. Ihnen waren alle Türen geöffnet worden, die Alexander als möglicherweise verschlossen wahrnehmen konnte. Lediglich jene, mit ihm gemeinsam im Garten Fangen zu spielen oder bis zu den Wolken zu schaukeln, war Ginny kurz nach der Geburt ihrer Schwester geraubt worden und sie verstand es lange Zeit nicht. In manchen Zwischenräumen des angespannten Verhältnisses scheint sie beinah diese kurzen Kindheitsaugenblicke wieder greifen und zwischen sie zerren zu können, dann, wenn sie ihren Vater einmal am Abend überraschen kann, wenn er nicht in seiner Buchhaltung vertieft oder mit einem Geschäftspartner im Gespräch verwickelt ist. Doch die meiste Zeit über besteht ein breites Feld von Nichtverständnis beiderseits, welches durch mangelnde Kommunikation keine Ausräumung findet. Alexander sieht seine Tochter als undankbar an, in jener Weise, wie sie ihre eigene Zukunft verbaut und sich gegen so vieles sträubt, was ihr etwas bringen könnte. Während Ginny selbst um das Gesehenwerden kämpft, um das eigene innere Versagensgefühl und jenes abzuschütteln. Alexander hegte hohe Erwartungen an seine Kinder und diese zu erfüllen sollte Lebensaufgabe der drei Sprösslinge werden.

Mit Evander von Löwenstern haben Alexander und Margarethe als erstes Kind einen Sohn bekommen, welcher ihr Herz wärmen und mit Stolz erfüllen sollte. Der Junge wusste früh bereits mit einem Selbstbewusstsein durch das Leben zu gehen, welches andere Menschen nie erlangen mögen. Sie haben ihn an jeder Ecke und in jeder Hinsicht unterstützt – er scheint in das perfekte Bild hineinzupassen, welches die Familie nach außen trägt. Wie es im Inneren von Evander aussieht, weiß Ginny nicht. Der Kontakt zu ihrem älteren Bruder ist seit langer Zeit angespannt: immer wieder wird er in den Vergleich hineingezogen, mit welchem guten Beispiel er vorneweg geht, der ihr als Orientierung dienen soll. Er wird dadurch auf ein Podest gehoben, dessen Lichter immerzu blendend hell erstrahlen. Häufig scheinen Evander und Ginévra wie aus verschiedenen Welten zu stammen und doch einander nicht loslassen zu können. Er wünscht sich, sie wäre nur ein wenig besser darin, sich anzupassen und einzufügen – sie sehnt sich nach etwas Rückhalt und Verständnis von seiner Seite aus. Beide wissen seit Langem schon nicht mehr, den Umgang miteinander zu pflegen und verhalten sich steif, unsicher und gestellt im Gegenüber mit dem Geschwisterkind. Dennoch bindet Familie. Sie hassen sich nicht. Sie lieben sich. Wenngleich tief vergraben unter all den Widrigkeiten eines anspruchsvollen Lebens.

Mit Sehnsucht musste Margarethe während der frühesten Jahre ihres zweiten Kindes an die Zeit mit ihrem Sohn denken, welche sich als wesentlich einfacherer und ruhiger gestaltete. Es schien immerzu ein Bedürfnis nach Nähe von ihrer Tochter auszugehen, das Kleinkind hasste Autofahren und schrie wie die Hölle im Kindersitz, es mochte nicht neben ihr liegend einschlafen, was immer Margarethe auch versuchte und fand dafür Ruhe, wenn sie herumgetragen wurde, ihr Geschichten erzählt wurden oder anderweitig die Aufmerksamkeit auf ihr lag. Tatsächlich zeichneten jene ersten Jahre die Mutter-Kind-Beziehung nachhaltig in einem schwierigen Verhältnis: noch immer sieht Margarethe in ihrer jugendlichen Tochter das kleine, schreiende Kind, welches gesehen werden möchte. Welches anders als Bruder und Schwester nicht im Kinderbett zur Ruhe fand, sondern auf ihrem Arm, an ihrer Brust oder auf ihrem Schoß. Das sich nicht in die Obhut des Kindermädchens geben ließ, weil Margarethe dieses zwei Räume weiter immer weiter schreien hören konnte. Unfreiwillig stellte Ginévra Margarethe in den Konflikt der gesellschaftlichen Ansprüche ihrer Familie oder aber ihrem Kind gerecht werden zu müssen und dies wog schwer auf der Mutter. Ginévra sieht sich mit ihrer eigenen Unsicherheit konfrontiert, welches ihrer Worte, welche ihrer Bewegungen oder welche ihrer Reaktionen es sein mag, die das Gespräch kalt und scharf werden lassen – sie hat zu oft gehört, welche Anstrengungen als Kind sie gekostet hat und das Gefühl gewonnen, diese ausgleichen zu müssen. Während sie sich nur immer verlorener zwischen den ausgerichteten Gesellschaften ihrer Mutter fühlte, wo immer Margarethe sie als wunderschön bezeichnete, fühlte Ginévra sich eingeengt und atemlos. Zwei Welten, die einander nah sein sollten, doch durch die ersten Jahre zu weit von einander fortgerissen worden waren, um noch Brücken erbauen zu können.